„Unter dem Radar“

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Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine beschäftigt uns alle sehr und bestimmt sowohl die mediale wie die politische Debatte. Krieg mitten in Europa, das haben wir uns alle bis vor ein paar Wochen kaum vorstellen können und es macht auch mir Angst. Es stellen sich unzählige Fragen, die einer schnellen Antwort bedürfen. Insofern ist es verständlich und auch nachvollziehbar, dass diese Krise alles andere zu überlagern droht.

Dennoch bleibt das politische Leben nicht stehen und es werden politische Entscheidungen fast unterhalb des Radars der öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung getroffen, die sehr ernsthafte Fragen bezüglich der Wahrung fundamentaler Grundrechte aufwerfen und damit den Kern unserer demokratischen Gesellschaften betreffen.

Vorab: Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich in meinen Positionierungen und Argumentationen mich vor allem darum bemühe, Grundfreiheiten so gut es geht zu verteidigen.  Ich halte dies für meine Pflicht als Politikerin und Abgeordnete, selbst wenn dies bedeutet, dass ich eine unbequemere Position einnehme, die vielleicht nicht auf den ersten Blick schön klingt oder möglichst viel Beifall in Tweets erlangt. Jedoch scheint es mir immer häufiger notwendig, dass ich mich für diese Positionierung rechtfertigen muss, was ich ja gern tue, es aber auch als Zeichen werte, dass diese liberale Grundhaltung immer weniger selbstverständlich zu sein scheint.

Während die Diskussion um Uploadfilter bei Urheberrechtsverletzung – zumindest in Deutschland noch breit diskutiert wurde und viele Menschen auf die Straßen trieb – finden Diskussionen über das Löschen und Sperren von vermeintlichen oder realen Desinformationen in sozialen Medien fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit nur noch in kleinen Fachkreisen statt und werden allzu oft zuungunsten der Meinungs- und Medienfreiheit entscheiden.

So sehr ich die Sorge über beispielsweise von Russia Today verbreitete russische Propaganda verstehe, warne ich dennoch davor, im sensiblen Bereich der Medienfreiheit nicht in voreiligen Aktionismus zu verfallen. Die Begründung für das von der Kommission vorgeschlagene und vom Ministerrat schnell angenommene Verbot von Russia Today und Sputnik, man müsse Kriegspropaganda und Desinformation stoppen, wird umgekehrt auch von russischer Seite als Begründung für deren neues Mediengesetz ins Feld geführt – zugegeben mit der Folge, dass unabhängige Berichterstattung in Russland gar nicht mehr möglich ist. Wir dürfen uns nicht vorwerfen lassen, letztlich die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, für die wir die Regierungen in Ungarn und Polen und schließlich auch in Russland kritisieren. Das Argument, wir täten dies aus moralisch besseren Gründen, zieht hier nicht.

Immer wieder höre ich im Europäischen Parlament, man müsse doch jetzt endlich mal gegen Desinformation und FakeNews in den sozialen Medien vorgehen, oft verbunden mit der Forderung an Plattformbetreiber solche Inhalte zu identifizieren und möglichst schnell zu löschen. Nur weil es technologisch offenbar immer einfacher realisierbar erscheint, einerseits Desinformationskampagnen online zu fahren und ihnen andererseits zu begegnen, darf dies nicht die notwendige Diskussion darüber verdrängen, ob eine  Einschränkung von Informations- Medien- und Meinungsfreiheit zulässig ist, wie weit diese gehen darf und ab wann und wie technische Mechanismen in einem freiheitlich organisierten Rechtsstaat zum Einsatz kommen dürfen, um Falschinformationen und Desinformationskampagnen zurückzudrängen. Aus meiner Sicht darf hier nicht der Grundsatz „sicher ist sicher“, sondern „im Zweifel für die Freiheit“ (in dubio pro libertate) gelten. Sicherung von Frieden gelingt uns nach innen wie nach außen nur in Verteidigung unserer Freiheiten. Nur in sachlich und zeitlich eng begrenzten Ausnahmefällen kann eine Selbstbeschränkung von Freiheitsrechten als letztes Mittel notwendig sein. Es ist Aufgabe der Politik, diese Ausnahme wirklich absolute Ausnahme sein und gerade nicht die Regel werden zu lassen.

So muss die unabhängige Medienlandschaft in der EU unbedingt aktiv gestärkt werden.  Sie besteht aus einer vielfältigen Presse sowie einem Nebeneinander unabhängiger privater und öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Onlinemedien. Diese sind in der Lage, Desinformation zu erkennen, einzuordnen und darüber zu berichten. Wir sollten auf die Widerstandskraft dieses Systems unabhängiger Medien vertrauen, das wir aufgebaut haben. Die Beurteilung, wann etwas Desinformation ist oder nicht, ist schwierig. Welche Kriterien legt man an und wer entscheidet am Ende darüber? Man bewegt sich sehr schnell auf einem schmalen Grat. Die Grenze zwischen „bewusster Falschdarstellung von Tatsachen“ und „unerwünschter“ Meinungsäußerung ist äußerst dünn und in Krisenzeiten, sei es wegen Terrorismus, einer Pandemie oder jetzt wegen eines Krieges, wird dieser Grat noch schmaler.

Aber gerade in solch schwierigen Zeiten ist es unsere Pflicht, die Freiheiten und Grundwerte zu verteidigen, anstatt weitere Einschränkungen der Informations- und Meinungsfreiheit zu fordern. Für mich ist die Lösung des Verbots ein zu einfacher Weg für Demokratien. Wir müssen bereit sein, und ich bin überzeugt, dass wir die Macht und auch die Kraft haben, der Desinformation entgegenzutreten, sie klar als solche zu erkennen, zu benennen und sie in jeder öffentlichen Debatte entsprechend zu behandeln. Egal wie schwer es uns fällt, wir müssen immer zumindest die Möglichkeit haben, zu prüfen, ob der andere auch Recht haben könnte. In einer freien Welt möchte ich das ganze Bild sehen. Russia Today und Sputnik sind viel eher dort ein Problem, wo keinen solchen Medienpluralismus gibt, wie wir ihn in den meisten europäischen Staaten verteidigen. Mündigen Bürgerinnen und Bürgern Informationen vorzuenthalten und ihnen und unabhängigen Medien eine Auseinandersetzung mit vermeintlicher Desinformation unmöglich zu machen ist mit meinem Verständnis der Informationsfreiheit unvereinbar. Zum Schutz unserer Demokratie Medienfreiheit einzuschränken, wäre ein schwerer Fehler, denn das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Der Aktionismus, der hier an den Tag gelegt wird, wird letztlich denen, die unabhängige Medien als Feind ansehen – ob Orbán in Ungarn, Duda in Polen oder Putin in Russland – als Argument nützen nicht nachzulassen. Im Übrigen gilt der alte Voltaire zugeschriebene Satz: „Ich werde Deine Meinung nicht teilen, aber ich werde alles tun, damit Du sie sagen kannst.“

In den vergangenen zwei Jahren hatten und haben wir es aber noch mit einer ganzen Reihe weiterer Einschränkungen von Grundrechten zu tun gehabt, die ebenfalls jeweils mit Gefahrenabwehr begründet wurden. Ich will hier nicht die ganze Debatte um Grundrechtseinschränkungen in der Pandemie wieder aufrollen – meine Position dazu habe ich mehrfach dargelegt.  Aber während aktuell fast alle unsere Nachbarländer zur Normalität zurückkehren, wird in Deutschland gerade wieder über eine Änderung des Infektionsschutzgesetztes – fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit – diskutiert, das auch zukünftig Grundrechteeinschränkungen sozusagen auf Vorrat für die Länder möglich machen soll. Festgelegte und objektivierbare Kriterien fehlen bislang im Entwurf und damit wird das Ganze ins Ermessen der Länder gelegt. Das neue Gesetz scheint weniger restriktiv zu sein, als ich das befürchtet hatte, aber dennoch sind wir noch immer davon entfernt alle pandemiebedingten Grundrechtseinschränkungen aufzuheben.  Immer wieder werden uns neue Gründe präsentiert, warum weitere grundrechteeinschränkende Maßnahmen notwendig bleiben – erst war es die drohende Überlastung der Krankenhäuser (die nachweislich trotz mancherorts schwieriger Situationen nicht eingetreten ist), dann der drohende Zusammenbruch der Infrastruktur, dann die insgesamt niedrige Impfquote und jetzt die niedrige Impfquote bei den vulnerablen Gruppen. Auch die immer noch im Raum stehende Impfpflicht (die in Österreich gerade ausgesetzt wurde) stellt einen schweren Eingriff in Grundrechte dar. Eine Impfpflicht im Vorgriff auf eine Corona-Virusvariante, die wir heute noch nicht kennen und wo wir auch noch nicht wissen, ob die vorhandenen Impfstoffe dagegen wirken, halten namhafte Verfassungsrechter für verfassungsrechtlich sehr bedenklich – ein Auffassung, die ich teile.  (Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich selbst bin dreimal geimpft.)

Alles in allem haben wir es in den vergangenen Jahren mit immer neuen Diskussionen über die Einschränkung von Grundrechten in unterschiedlichen Abstufungen zu tun und ich bin wirklich erschüttert, mit welcher Nonchalance über Einwände hinweggegangen wird mit der Bemerkung, dafür gebe es aber in diesem Einzelfall doch nun wirklich gute Gründe. Wir wundern uns, dass politische Konkurrenz am rechten Rand genau in diesen Mangel an liberaler Politik hineinstößt und für ihre eigenen, aus meiner Sicht klar zu missbilligenden eigenen Zwecken populistisch umdeutet.

Es ist an uns diese Flanke zu schließen. Ich bin davon überzeugt, dass wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit einem Kurs, der eine sozialere und eben auch liberalere Handschrift trägt, langfristig gewinnen können. Man muss dann aber neben dem Sozialen auch das Liberale wagen.

Wir alle sollten wachsam bleiben. Solche Diskussionen gehören nicht unterhalb des Radars, sondern in die Mitte unserer Gesellschaft, denn am Ende geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um grundlegende Regeln unserer demokratischen Gesellschaften